Jürgen Hansel
¦ Ruta graveolens
SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
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RHEUMA
RHEUMA UND PSYCHOSOMATIK
Es gibt eine Reihe von psychologischen Untersuchungen zu
bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen von Patienten, die an
chronischer Polyarthritis leiden, und zu möglicherweise aus-
lösenden Faktoren, die dem Auftreten der Erkrankung oder
eines Schubes vorausgehen. So ist die Aggressionshemmung
bei Arthritikern ein allgemein anerkanntes und auch häufig
in der Praxis zu beobachtendes psychologisches Phänomen.
Dabei ist es wohl weniger so, dass die Aggression bewusst
unterdrückt wird, sondern eher so, dass gar keine Aggression
gefühlt wird.
Dies zeigt eine amerikanische Untersuchung an 300 Arthriti-
kern, die über 30 Monate beobachtet wurden: Die Patienten,
die angaben nur selten wütend zu sein oder die sich nicht
daran erinnern konnten, im letzten Jahr Wut empfunden zu
haben, entwickelten signifikant häufiger arthritische Schübe
als die Patienten, die sich noch kürzlich an Wut erinnern
konnten. Die höheren Testwerte in den Skalen zur Aggressi-
onshemmung scheinen also nicht eine Folge der Erkrankung,
sondern eher der Ausdruck eines disponierenden Persön-
lichkeitsmerkmals zu sein. Die Hemmung der Aggression
geht häufig mit einer generellen Blockade im Ausdruck von
Gefühlen einher.
Der Mangel an gelebter Aggressivität wird im körperlichen
Bereich kompensiert. Rheumapatienten berichten häufig von
einer starken Neigung zu physischer Aktivität in der Zeit, als
sie noch nicht krank waren. Wenn bei Menschen mit einer
solchen Persönlichkeitsstruktur und einer genetischen Dispo-
sition zu einer rheumatoiden Arthritis besondere emotionale
Belastungen auftreten, kann es zum Ausbruch der Erkran-
kung kommen. Solche Belastungen sind vor allem Ereignisse,
die eine Einbuße an persönlicher Sicherheit bedeuten – wie
der Verlust des Arbeitsplatzes, finanzielle Schwierigkeiten
oder Familienstreitigkeiten.
Offensichtlich ist das Krankheitsbild der rheumatoiden Arth-
ritis nicht nur mit bestimmten typischen körperlichen Symp-
tomen, sondern auch mit bestimmten Persönlichkeitsmerk-
malen verbunden. Für die Homöopathie bedeutet das, dass
man – auch wenn man keine klinische Homöopathie betreibt
– bei der rheumatoiden Arthritis häufig ganz bestimmten
homöopathischen Arzneimittelbildern oder Arzneifamilien
begegnet, die eben diese charakteristischen psychophysi-
schen Symptom-Muster abdecken.
zum Beispiel einen Herzinfarkt vor einigen Jahren, von dem er
nicht viel Aufhebens macht.
Seelische Verletzungen:
In der Zeit vor dem Ausbruch der
Krankheit gab es allerdings zwei Vorkommnisse, die ihn ziemlich
aus der Fassung gebracht haben. Zum einen ist die Einrichtung,
für die er seit 30 Jahren arbeitet und die er seit Längerem lei-
tet, von der Schließung bedroht, was ihn sehr beunruhigt und
verunsichert. Wenige Jahre vor der Rente fühlt er sich um seine
Lebensarbeit betrogen. Dabei kann er gar nichts tun und muss
abwarten, wie sich die Lage entwickelt.
Mindestens ebenso sehr beschäftigt ihn das Schicksal seines
Sohnes, dem ein Kind „angehängt“ wurde. Der Sohn ist tief
getroffen und verletzt, dass die Frau ihn so hereingelegt hat.
Wenn der Vater sagt: „Mein Sohn kann jetzt nicht mehr so
schalten und walten, wie er will“, leidet er selbst am meisten
darunter, dass er nichts machen kann in dieser Krise seines
Sohnes. Seine emotionale Reaktion auf die Gefährdung seines
Arbeitsplatzes und auf das Dilemma des Sohnes ist ein Gefühl
tiefer Enttäuschung. Noch nie zuvor in seinem Leben habe er
eine ähnliche Enttäuschung erlebt.
ANALYSE
In dieser Kasuistik lässt sich eine auffällige Entsprechung der
Empfindungen auf der seelischen und der körperlichen Ebene
erkennen. Der Patient erlebt zwei große Enttäuschungen. Am
meisten macht ihm das Schicksal seines Sohnes zu schaffen, mit
dem er sich stark identifiziert. Er selbst ist enttäuscht, getroffen
und tief verletzt von dem, was seinem Sohn widerfahren ist,
und diese tiefe seelische Verletzung manifestiert sich bei ihm,
der seine Emotionen schwer ausdrücken kann, körperlich: Sein
Handgelenk ist wie von einem Rohr getroffen und tief verletzt.
Wie wirken sich diese seelische Verletzung und der körperliche
Schmerz auf ihn aus? Er wird im wahrsten Sinne des Wortes
handlungsunfähig und leidet am meisten darunter, dass er nichts
machen kann. Diesen Zustand der Handlungsunfähigkeit durch
eine tiefe Verletzung, als ob jemand auf das Handgelenk ge-
schlagen hätte, kann man bei Kent repertorisieren.
Das typische Symptom:
Die Essenz des Falles verdichtet sich
dabei in einem Symptom: Extremitäten – Lahmheit – Handge-
lenke – zerschlagen; wie; calc-p.,
RUTA
.
Dieses Symptom verbindet die Lokalisation, Art und Tiefe des
Schmerzes mit der Folge, nämlich der Handlungsunfähigkeit, der
Lahmheit. Es ist eine sehr spezifische Rubrik – spezifisch nicht
nur für dieses bestimmte Beschwerdebild, sondern auch für die
Arznei Ruta graveolens. Natürlich ist es zweifelhaft, aufgrund
einer Rubrik allein ein Mittel zu verordnen. Die Rubrik ist in
diesem Fall aber Grund genug, sich mit Ruta näher zu beschäf-
tigen. Man kennt von dieser Arznei vor allem ihre organotrope
Beziehung zu den Augen und zu Sehnen, Knorpeln, Knochen-
haut und Gelenken. Da ist es besonders das Handgelenk, an
dem sich die Wirkung von Ruta zeigt. Es ist ein Hauptmittel bei
Beschwerden des Handgelenks, speziell bei rheumatischen Er-
krankungen. Dabei ist der Schmerzcharakter sehr typisch: wund,
wie zerschlagen oder zerbrochen. Das zeigen die folgenden
Symptome aus Hahnemanns Arzneimittelprüfung:
•
Lähmiger Druck auf der äußern Seite des rechten Vorder-
arms
•
Reißender Druck im rechten Handgelenke, bei starker Be-
wegung heftiger