SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
Jürgen Hansel
¦ Ruta graveolens
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RHEUMA
Hahnemann hat neben Ruta graveolens noch eine zweite, weniger bekannte Arznei aus der Familie der Rautengewächse geprüft.
Sie wird wird aus der Rinde von Angustura trifoliata, einem südamerikanischen Baum, gewonnen. Der heute gültige botanische
Name ist Galipea officinalis, in der Homöopathie ist jedoch nach wie vor Angustura vera geläufig.
Das hervorstechende Symptom, das in der Praxis häufig den Weg zu diesem Mittel weist, ist das ausgeprägte Verlangen nach
Kaffee. In der entsprechenden Repertoriumsrubrik steht es seit Kent als einziges Mittel dreiwertig. Bei dem exzessiven Kaffeekon-
sum ist es nicht verwunderlich, dass sich bei den Betroffenen auch typische Coffea-Symptome zeigen wie „große Aufgereiztheit,
angespannte Munterkeit und Thätigkeit des Geistes“
1
. Sie haben viele hochfliegende Ideen und begeistern sich für immer neue
Projekte, die aber nicht realisiert werden. Der Kaffee unterstützt aber auch die von Scholten beschriebene Eigenart der Rutaceen-
Patienten, frisch und gutgelaunt durch den Tage zu gehen und auch am Rande der Erschöpfung immer noch weiterzumachen.
Angustura ist einer der bittersten Stoffe in der homöopathischen Materia Medica und die Bitterkeit findet sich auch im Arznei-
mittelbild. Das gilt für bitteren Geschmack im Mund und bitteres Aufstoßen, vor allem aber für ein tief sitzendes Gefühl der
Verbitterung. In Hahnemanns Reiner Arzneimittellehre finden wir das Symptom: „Geringe Beleidigungen erfüllen ihn mit Bitter-
keit“
1
. Die Verbitterung äußert sich aber nicht in Wutausbrüchen und Aggressivität wie bei dem ebenso bitteren Nux vomica,
sondern ähnlich wie bei den anderen Rutaceen in „Missmuth, Unzufriedenheit mit seiner Lage, widriger Empfindlichkeit gegen
Scherz“
1
.
Im körperlichen Bereich finden wir eine ähnliche Affinität zu Muskeln, Sehnen und Gelenken wie bei Ruta. Im muskulären Bereich
können Steifheit und Krämpfe Tetanus-ähnliche Ausmaße annehmen. Vor allem aber ist Angustura genau wie Ruta „eine Arznei für
rheumatische Zustände mit Müdigkeit und Steifheit der Glieder, die an Lähmung grenzen“
2
. Und ebenso ausgeprägt wie bei Ruta
ist dabei die von Sankaran beschriebene Vitalempfindung der Rutaceen: „Gequetscht, zusammengepresst, zerschlagen“
3
. In der
Repertorisation
4
wird die Gelenksysmptomatik aus dem Fallbeispiel durch Angustura sogar noch besser abgedeckt als durch Ruta.
Betrachtet man nur die körperliche Symptomatik, wäre in diesem Fall Angustura durchaus auch eine Option gewesen. Den
Ausschlag gab in diesem Fall vor allem die für Ruta spezifische Causa im Gemütsbereich mit der zweifachen Erfahrung tiefer
Enttäuschung und dem Gefühl betrogen und hintergangen worden zu sein.
Interessant für die Differenzialdiagnose der beiden ähnlichen Rautengewächse ist auch die miasmatische Einteilung nach Sankaran.
Ruta wird dabei dem Krebs-Miasma, Angustura dem Malaria-Miasma zugeordnet. Letzteres ist mit intermittierenden heftigen
Attacken verbunden, während es sich beim Krebs-Miasma um einen chronisch-fortschreitenden Zustand handelt, gegen den man
trotz größter Anstrengung wenig ausrichten kann und der deshalb mit einem Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlustes
verbunden ist. Im Malaria-Miasma schimpft und klagt man über seine missliche Lage, während im Krebs-Miasma der emotionale
Ausdruck eher blockiert ist. Auch wenn diese Aspekte für Ruta sprechen, ist in diesem Fall eine eindeutige Differenzialdiagnose
aufgrund der miasmatischen Zuordnung nicht möglich. Denn das Gefühl des Patienten, in seiner Aktivität blockiert und hand-
lungsunfähig zu sein, kann ebenso ein Aspekt des Malaria-Miasmas sein wie die Verbitterung, die man bei ihm spürt und die
gerade für Angustura typisch ist.
DIFFERENZIALDIAGNOSE ANGUSTURA VERA